Auszug aus „Die Erdwürmer“

 

Dann brachen wir nach Paris auf. Rolf und sein Freund Benjamin Schapiro, der struppige Kerl mit der dunklen Hornbrille aus Rolfs Bar, holten mich im weißen Sportwagen an einem sonnigen Spätherbstmorgen ab und brausten mit mir in schwung-voller Fahrt bis an die Seine.

Ich hatte gar keine Vorstellung von Paris. Es war Nacht, als wir die Stadtmitte erreichten.
Wir hatten Zimmer in einem kleinen Hotel in der Rue St. Honoré reserviert. Ich war seltsam aufgeregt und ungeduldig, ich hatte das Gefühl, dass ganz in der Nähe etwas geschehe, es schien ein Rumoren in der Luft zu sein, ich roch Leben, wie man das Meer schon von weitem riecht, ich ahnte etwas Außergewöhnliches, und es drängte mich, mich herumzutreiben.

Die Luft war angenehm kühl und belebend. Ich verabschiedete mich von den beiden und ging los, indem ich die Hände in den Hosentaschen vergrub und erwartungsvoll vor mich hin schlenderte. Mit einem Mal stand ich mitten in einer turbulenten Welt, südländische, schäbig gekleidete Gestalten liefen geschäftig umher, trugen helle Holzkisten voller Tomaten, Früchte und Salate durch die Gegend, ganze Ballen von Kohl und Gemüse. Das Rot und Grün und Gelb leuchtete im Schein der Lampen, die hinter hochgezogenen Jalousien die ganze Straße entlang in kahlen Vorratsräumen hingen. Kisten türmten sich auf den Trottoirs, große Lastwagen brummten langsam durch die schmalen Straßen und zwängten sich an den Kisten vorbei, sie wurden durch lebhafte, laute Zurufe dirigiert, und unter ihren Planen offenbarten sich weitere Schätze an Apfelsinen, Äpfeln, Pfirsichen und Melonen, die einen süßlichen Duft ausströmten und die ganze Umgebung verzauberten. Baskenmützen tragende Männer zählten die Kisten, hier und da wurde aufgeregt gefeilscht, an den Wänden lehnten Männer in blauem Overall mit braungebranntem, scharf geschnittenem Gesicht und lockigen, glänzenden, dunklen Haaren. Ich lief unschlüssig und verwirrt in dieser nächtlichen Zauberwelt umher, in der nächsten Straße erblickte ich riesige Berge roten, blutigen Fleischs, große Schenkel hingen reihenweise im grellen Licht, dunkelrote Lebern. knochige Rippenteile, ganze Tierkörper, und alles war frisch und nass und tropfte noch, und auf der Straße lief das Blut zusammen und wurde von dicken Gestalten in weißer Schürze und mit weißer Mütze auf dem Kopf fortgespritzt.

Woanders standen schwatzende, ärmlich gekleidete Männer in Gruppen und versperrten die ohnehin schon enge Straße, kleine südländische Typen, große, dürre Kerle, mittelgroße, korpulente mit rundem Kopf und halber Glatze, mit Schnurbart, kleine Kobolde mit grauen Locken und goldenen Zähnen und Zahnlücken, fast an jeder Ecke leuchteten die großen Scheiben bunt beschilderter Bistros, hinter denen aus verchromten Kaffeemaschinen Espresso ausgeschenkt wurde und stoische Typen an der Theke standen, um Rotwein zu trinken und temperamentvoll an glitzernden Spielautomaten zu hantieren.
Ich nahm das alles mit Freude auf, es belebte mich.

In Packpapier gehüllt schliefen in windgeschützten Ecken alte Clochards, ich hielt sie im ersten Augenblick für Tote, woanders lagen sie mitten auf dem Trottoir, auf den Gittern, die zu den U-Bahnschächten hinabführten und aus denen die warme Luft der Métro kam, hingestreckt und ungeniert, dass man über sie hinwegsteigen musste.

Die Häuser waren schmal und ragten hoch hinauf in den tief dunkelblauen Himmel, sie machten einen wackligen Eindruck und lehnten aneinander und schienen zu schlafen, mit ihrer mehliggrauen Farbe und den hohen vergilbten Fensterläden.

Am Louvre war es wieder still, er lag wuchtig und finster und majestätisch da im Dunkel, weit von der Straße zurückgesetzt, hinter hohen, schmiedeeisernen Zäunen, und in den Bäumen rauschte es. Kühler, geheimnisvoll riechender Wind kam von der Seine, die schweigsam hinter den Bäumen dahin floss, mit runden, tänzelnden, schwarzen Wellen, sich unter den Brückengewölben hindurch wand und eine Ewigkeitsstimmung entstehen ließ: auf dem schwarzen Wasser, das sich unaufhaltsam bewegte, das schaukelte und floss und zu beiden Seiten von hohen, steinernen Wänden begrenzt war, tanzten Lichtreflexe einen zuckenden, gespenstischen Tanz, das Wasser lag so tief unten und gähnte und war so breit und glänzend, dass es Ahnungen hervorrief. Die Brücken, die sich massiv über die Seine spannten, waren angestrahlt und spiegelten sich auf den Wellen, sie ließen das Wasser durch finstere Höhlen dringen und fügten sich ganz in diese Welt aus Stein und Wasser. An den Wänden führten schmale Treppen hinunter zu kleinen wippenden Booten. Ich ging über eine der Brücken hinüber in das Labyrinth der engen Gässchen und winkligen Straßen des Quartier Latin. Zu Seiten der Seine träumten die säuberlich aneinander gereihten Fassaden der alten Häuser mit ihren hohen Fenstern, durch einen verfallenen Torbogen ging es über holpriges Pflaster zwischen öden Häusern entlang, die Straßen schienen tot zu sein, so schwarz war es in ihnen, so hohl glotzten die Fenster, so leblos machte sie der Schmutz, der Müll und der herab gefallene Putz auf den schmalen, welligen Trottoirs. Die in den Ecken liegenden Clochards bemerkte ich erst, als ich schon fast auf sie getreten war. Gelegentlich warf eine Straßenlaterne mattes Licht in das Dunkel. Meine Schritte hallten in den finsteren Schächten.

In der nächsten Straße war es heller, Musik drang aus einigen beleuchteten Fenstern, Menschen liefen und standen umher, geschäftig und angeregt. Ich schaute in die Restaurants und Bars, die nach außen unscheinbar waren, in denen aber Atmosphäre herrschte. Dann hatte ich den Boulevard Saint-Germain de Prés mit seinen Straßencafés und großen Restaurants erreicht, in denen unter dem nächtlich düsteren Laub der Bäume eigenwillige und bemerkenswerte Menschen saßen, ich hatte noch nie so viele davon an einer Stelle gesehen, große Schwarze mit selbstbewusstem, intelligentem Gesicht, Bärtige, schöne, schwarzhaarige Künstlertypen, großäugige Mäd-chen – die Gesichter vor allem waren bemerkenswert, mir schien, dass die Menschen mit eigentümlicher Schwere lachten und mit nachlässiger Leichtigkeit traurig waren. Sie sprachen abgeklärt und beherrscht, aber es war keine Manie, es schien das Ergebnis eines Lebens in dieser Stadt zu sein. Sie waren Kinder der Revolutionen jeder Art, sie hatten als Kinder schon auf den Champs-Elysés Fangen, vor dem Louvre Fußball und in den Tuilerien Hopse gespielt, im Jardin de Luxembourg hatten ihre Sandkästen gestanden. Auch das Revolutionärste, das Sensationellste war ihnen altbekannt.