Dr. Peter Forster

Offenheit und Hingabe

Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung mit Bildern von Tom Sommerlatte

Die bildende Kunst ist für Tom Sommerlatte so etwas wie ein ständiger Begleiter. Charakteristisch scheinen vor allem zwei Wesenszüge zu sein: Offenheit und Hingabe. Offenheit all den künstlerischen Strömungen gegenüber, die mittels Farb- und Formgestaltung sich eine „Freiheit“ ermalt haben. Freiheit in der Hinsicht, unabhängig gegenüber den realen Bedingungen sich in der Schönheit der Ideenwelt zu entfalten. Diese Freiheit basiert zunächst auf einer geistigen Form. Aus diesem geistigen Formenprinzip kann sie nach außen als materielle Form übertragen werden. Beim erstmaligen Betrachten der Werke Tom Sommerlattes musste ich unwillkürlich daran denken, dass in der Kunst auf unterschiedlichste Weise immer wieder der Traum einer menschlichen Welt gelebt wurde. Das dieser Traum nie verwirklicht werden konnte, stört die Künstler nicht, motiviert sie vielmehr, es immer wieder zu versuchen. Auch Tom Sommerlattes Kunst verströmt den Hauch eines Ideals, das Ideal von einem harmonischen Miteinander, von einer menschlichen Welt, die sich mit der Natur im Gleichklang befindet. Alles andere als naiv wird hier mit intellektuellem Scharfsinn einer Utopie gefrönt, die man in der Welt der Jonathan Meeses und Neo Rauch nicht antrifft. Deren rätselhafte und brutale Sicht der Welt scheint im Vergleich zu Tom Sommerlattes Werk auf einem anderen Planeten stattzufinden. Sein Werk scheint gänzlich frei, allem offen, leicht und unbekümmert. Und das meine ich nicht negativ, im Gegenteil. Denn diese Leichtigkeit weiß um die Realität, weiß derart um die Realität, dass sie nur durch eine große Offenheit hinsichtlich Farbe und Form sich auf der Leinwand als ein Humanitätsideal ausdrückt. Tom Sommerlatte gelingt es tatsächlich, etwas von seiner geistigen Idee in materielle Form zu transformieren. Die Bilder sind ruhig, ausgewogen, einnehmend. Man hat nicht das Gefühl, sofort mit etwas „konfrontiert“ zu werden. Man kann sich einlassen und sich durchaus wohlfühlen. Ein motivisches Konfliktpotenzial wird vordergründig vermieden. Und hier kommt der zweite Aspekt der Hingabe ins Spiel. Diese Hingabe gilt der Behandlung der Farbe. Man spürt regelrecht, welche Lust es dem Künstler bereitet, mit Farben zu arbeiten. Die Intensität und sinnliche Erfahrbarkeit der Farben, ihre Möglichkeiten auszuloten und immer wieder zu variieren, zu interpretieren und neu zu kombinieren, ist eine reine Lust, der sich Sommerlatte hingibt. Aber hier dreht keiner durch. Die Farbe geht mit dem Künstler nicht durch. Wir haben es nicht mit einem wilden Schwelgen zu tun sondern mit ausgewogenen und abgestimmten Farbsetzungen, Und hier gibt es einen Gleichklang mit Tom Sommerlattes beruflicher Disziplin: von Hause aus ist er Naturwissenschaftler. Sommerlatte untersucht und erforscht die Möglichkeiten der Farbe und lässt dabei Ordnung walten. Auffällig sind geordnete groß angelegte Flächen, die oftmals geometrisch gegliedert sind. Die flächigen Formen setzen sich gegenseitig voneinander ab und treten mittels Farbkorrespondez in ein Spannungsverhältnis. Farbe und Form verdichten sich zu einem atmosphärischen Ganzen. Die erzeugte Atmosphäre ist wiederum ganz der Idee der Harmonie verpflichtet.

Stilistisch mäandern die Werke zwischen Figur und Abstraktion. Dabei variieren die Schwerpunkte. Es gibt Arbeiten, die vollständig eine figürliche Sicht auf die Welt wiedergeben, Bäume, Landschaften, Fluss, fertig. Bei anderen Arbeiten definieren die Flächen nur noch die Ahnung von Figürlichem, gleiten ab in geomatrisch abstrakte Grundformen. Kreis, Ellipse, Schleife, Streifen, Bogen. Doch in letzter Konsequenz wird die Figur nie ganz aufgegeben. Details wie z.B. eine Hand sind immer vorhanden.

Betrachtet man die Werke länger und aufmerksamer, wozu ich nur raten kann, dann lassen sich immer konkrete Bezüge erkennen. Das heißt, diese Arbeiten sind nur abstrahiert, also nicht wirklich der abstrakten Kunst verpflichtet. Insbesondere in der Fernwirkung gewinnen die einzelnen Kompartimente wieder eine inhaltliche Gesamtheit. Die Harmonie des Gesamtbildes wird nicht beeinträchtigt. Sommerlatte arbeitet mit den Errungenschaften der Abstraktion um seinen eigenwilligen figürlichen Stil zu kreieren. Eigenwillig ist dieser Figurenstil allemal, denn phasenweise muten seine Figuren wie surreale Phantasiegebilde an.

Der Künstler arbeitet in Serie. Die Arbeiten ordnen sich jeweils einer Serie zu und korrespondieren innerhalb der Serie miteinander. Jede Serie trägt einen Titel, die Bilder selbst innerhalb der Serie tragen keinen eigenständigen Titel sondern das Jahr ihrer Enstehung mit einer anschließenden Nummerierung wie 2007/3. Damit divergieren die malerischen Serien von den Grafikserien: auch hier tragen die Serien Titel, aber auch jeder Blatt innerhalb der Serie. Beispielsweise in der Grafikserie „Um ihrer bedrohten Sache willen solidarisieren sich die Einzelgänger“ trägt das erste Blatt den Titel „Die Emigranten immigrieren nicht mehr“, das zweite „Die Kinder des Fortschritts altern“.

Das graphische Oeuvre des Künstlers ist nicht nur sehr umfangreich sondern spielt auch zum Verständnis seiner Malerei eine tragende Rolle.

Die doppelte Titulatur in der Graphik ist deshalb relevant, da es zwischen der Graphik und der Malerei Überschneidungen der Titel gibt. So gibt es die Serie „Die Entdeckung eines neuen Kontinents zwischen Luxemburg und Belgien“ sowohl in der Graphik als auch in der Malerei. Bei den farbigen Bildern findet man zum Teil dasselbe Motiv, aber ohne Titel.

Die Tatsache, dass in der malerischen Variante der Serien die Einzeltitel wegfallen, steigert die Bedeutung des Titels in der Graphik. Dort wo die Farbe weggenommen wird, werden die Blätter durch den Titel inhaltlich aufgeladen und bekommen im Unterschied zu ihren „farbigen Brüdern“ eine andere Richtung.

Diese verspielt hintersinnige Herangehensweise gesteht den graphischen Blättern damit eine Eigenständigkeit zu, da Tom Sommerlatte innerhalb einer Motivbehandlung zu unterschiedlichen Bildergebnissen gelangt. Mittels Schraffuren, die sowohl dicht als auch weitgreifend gesetzt werden, entsteht im Hell-dunkel-Spiel durchaus ein farblicher Klang. Sommerlatte spielt ein Motiv in beiden Medien durch, und anschließend beginnen diese ein Eigenleben zu entfalten. Sie leben durch sich selbst, nicht mehr durch ihr Motiv.

In der Serie „Tausendundeine Nacht“ greift Tom Sommerlatte die Sehnsucht nach fernen und exotischen Welten auf, die auch den Nerv der Zeit heute gut trifft. Im Zentrum seiner Betrachtung stehen die erotischen Komponenten. Nur zeigt er sie uns nicht als unverblümte Erotik, sondern seine Figuren sind fragmentiert. Die eigentliche Vorlage erschließt sich nur über den Titel der Serie. Sommerlatte erarbeitet sich innere Freiräume, die sich vom gedanklichen Motiv entfernen. Die Körper sind in einzelne Partien aufgesplittert. Dabei dominieren Rundformen. Zusammengebunden, ja verschmolzen werden die einzelnen Körperfragmente über die Farbe. Die Wahrnehmung der menschlichen Gestalt ist dadurch gewährleitet und tendiert dennoch in den Bereich der abstrakten Zeichen. Man sieht direkte figürliche Anklänge, die dann aber wieder in eine abstrakte Form übergehen. Man steht davor und sagt, da ist doch was, weiß aber nicht genau, was. Die Grenzen sind offen und fließend. In der Verbindung der abstrahierten Form mit den Farben spürt man die Freude an der Farbe. Es ist ein Schwelgen in blau, rot, orange. Die Farben werden flächig aufgetragen, gehen ineinander über und verbinden so die einzelnen Formen. Dabei vermeidet er eine Tiefenwirkung, alles findet auf der vorderen Bildebene statt. Im Zentrum steht die Komposition, die Setzung der Farben. Sommerlatte will uns nicht die Schönheit eines weiblichen Aktes vermitteln sondern die Schönheit der Farben. Über die Farben erzeugt er wiederum Atmosphäre, eine Stimmung, die sich im Motiv von tausendundeiner Nacht spiegelt.

Die zwei neuen Arbeiten, die im Sommer in Frankreich entstanden, 2008/1 und 2008/2, gehören zwar nicht zu dieser Serie, aber sie atmen den gleichen Geist. Die kräftigen Farben mit ihrer Lichtarmosphäre lassen etwas von der französischen Atlantikküste, dem Ort ihrer Entstehung, ahnen. Insgesamt sind die Formen im Unterschied zur vorangegangenen Serie großzügiger angelegt. Fast wolkengleich verströmen sie ihren Farbton. Klarer als zuvor zeichnen sich silhouettenartig menschliche Figuren ab. Wie in strahlendes Licht getaucht wirken die Farben, selbst dort, wo eine Abendstimmung eingefangen wird. Farbe wird zum Licht. Zu einem atmenden, sich ausdehnenden Farbstrom, der durchaus etwas mit dem Farbverständnis von Otto Ritschl zu tun hat.

Eine ebenfalls im Sommer 2008 entstandene Arbeit, 2008/3, knüpft hingegen an eine ältere Serie „Die Entdeckung eines neuen Kontinents zwischen Luxemburg und Belgien“ an. Diese Serie beginnt 1975, wird in den 1970er Jahren weitergeführt, blitzt in den 1980er Jahren noch einmal auf und findet jetzt 2008 ihre Fortsetzung.

Tom Sommerlatte gelingt es tatsächlich, dort einen neuen Kontinent zu entdecken, wo definitiv keiner ist.. Was bedeutet das? Diese witzige Umschreibung ist nichts anderes als eine Metapher für Menschen, die bereit sind, für sich Neuland zu entdecken. Es ist eine Hommage an die Menschen, die ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Die Suche nach einer neuen malerischen Dimension ist wie die nach einem unbekannten Land. Umso interessanter ist es, dass Tom Sommerlatte sich dabei in einem Fall auch auf ein altes eigenes Werk beruft, das wiederum von einem Werk Rousseaus inspiriert ist. Im Bekannten lässt sich also auch Neues entdecken, wenn man in der Lage ist, das alte weiterzuentwickeln: das Bild von Rousseau (1897) zeigt eine schlafende Zigeunerin in einer Wüstenlandschaft, die von einem Löwen beschnuppert wird. Betrachtet man Sommerlattes Werke zu diesem Motiv, so spürt man die Weiterentwicklung. Sie hat viel damit zu tun, wie Rousseau seinen Wachtraum voller Schönheit und Ruhe malte. Es gibt keine radikale Zäsur, stattdessen schafft Tom Sommerlatte neue Übergänge und weitere Ausformulierungen. Die schlafende Zigeunerin von Rousseau gehört zu einer Traumwelt, in der Mensch und Löwe sich nicht bekämpfen sondern harmonisch zusammen sind. Traum und Wirklichkeit fließen auch bei Tom Sommerlatte ununterscheidbar ineinander und schaffen ein zeitloses Zwischenreich. Diese eigene phantastische Welt kommt der Entdeckung eines neuen Kontinents sehr nahe.

Das zuletzt hier zu besprechende Werk von Tom Sommerlatte stammt aus der Serie „Erinnerungen“ und zeigt uns, im Unterschied zu seinen anderen Werken, figürliche Malerei. Wir sehen einen zeitlos friedlichen Landschaftspark, dessen Bäume sich im Wasser spiegeln. Die Baumsilhouetten sind in reine Farbe getaucht und nur durch weiße Umrisse formuliert. Ein Bild voller Harmonie. Tom Sommerlatte hat sich an den Park von Wörlitz erinnert. Dort war er als kleiner Junge, weil seine Familie, deren Stadt zerbombt war, dort evakuiert gewesen ist. Es ist eine Erinnerung an eine friedliche, schöne Landschaft zu einem Zeitpunkt, als gerade die Russen im Anmarsch waren. Zu dieser Zeit fielen abgeschossene Piloten an Fallschirmen herunter. Die Leute gingen hin und zerschnitten die Fallschirme, um sich Hemden daraus zu machen. Diese Kriegszeiten im Hinterkopf lassen einen das Bild 2000/2 mit anderen Augen sehen. Vordergründig ausgeglichen spiegelt es den Widerspruch wider, den ich zu Beginn mit Ideal und Wirklichkeit beschrieben habe. Tom Sommerlatte folgt dem Ideal der Harmonie und weiß nur zu genau um die Wirklichkeit.