Auszug aus „Die Geschwister“

 

Thomas ging langsamen Schrittes  im Schneetreiben dahin, das durch die Straßen wehte. Er hatte den Kragen vor das Gesicht geschlagen, den Mantel eng um den Körper geschlungen und die Hände in den Manteltaschen vergraben. Auf seinem Gesicht lag ein zufriedener Zug. Ja, er war zufrieden, während er im Schnee dahin stapfte. Er fühlte sich wie in einer Festung, als umgäben ihn schützende Mauern.

Die vergangene Zeit erschien ihm wie Schmutz, den er am liebsten abgeschüttelt hätte. Aber sie blieb Teil seiner selbst, eine Last, die er nicht los werden konnte.

Er zog die schwere Tür auf, die in eine Galerie an der Hardenbergstraße führte, und eine fast feierliche Atmosphäre empfing ihn. Er legte seinen Mantel ab und bewegte sich wie einer, der unendlich viel Zeit hat. Er begann, die Bilder der Ausstellung abzuschreiten und atmete tief, während er immer stärker ihre Wirkung auf sich spürte. Er genoss die sorgfältige Arbeit und den genialen Schwung, die diese Bilder ausmachten. Während er sich Schritt für Schritt in dem großen, hellen Raum fortbewegte, dicht an die Bilder herantrat, um die Technik des Malens zu prüfen, dann wieder zurücktrat, um die Gesamtkomposition aufzunehmen, bemerkte er eine zweite Person, die wenige Bilder vor ihm das Gleiche tat. Der Vorsprung, den der andere hatte, verkürzte sich, teils weil der andere zu Bildern gelangte, die seine Aufmerksamkeit in besonderem Maß auf sich zu ziehen schienen, teils weil er ihm aus Interesse näher kommen wollte. Es waren Bilder des Malers Otto Ritschl. Auch Thomas blieb länger vor diesen Bildern stehen, wie um eine geistige Bekanntschaft zu schließen, bis er das Gefühl hatte, das „Warum“ der Komposition zu verstehen, bis er das Gleichgewicht und die Spannung der Bilder so empfand, als schwebe er mit ihnen im Raum. Ihn überkam Freude über die leuchtenden Farben, über die Lust am empfindsamen Gestalten. Er kam dem anderen jetzt immer näher. Mit einem leise gesagten „Pardon“ gingen sie einander aus dem Blickfeld. Während Thomas die Angewohnheit hatte, unruhig hin und her zu laufen, um die Bilder einmal aus dieser, das andere Mal aus einer neuen Perspektive zu betrachten, blieb der Unbekannte mit verschränkten Armen ruhig stehen, das eine Bein vorgesetzt und den Kopf ein wenig geneigt. Er hatte schwarze Haare, überhaupt war sein Äußeres im Ganzen sehr dunkel gehalten. Thomas bemerkte, dass der Blick des anderen nicht nur auf den Bildern haftete.

Inzwischen langten sie bei Bildern eines anderen Künstlers an, und Thomas wurde es unbehaglich zu Mute. Er empfand, dass aus diesen Bildern manieriertes Wollen sprach. „Welche Armut an gestalterischer Arbeit!“ wandte sich der Dunkle an Thomas, als sie beide vor einem der Bilder standen. Thomas stimmte ihm zu. Sie blieben dabei, bei den weiteren Bildern ihre Meinung zu äußern und zu diskutieren. Thomas merkte, dass der andere sich mit den Bildern schon seit längerer Zeit beschäftigt zu haben schien. Wenn sie verschiedener Meinung waren, blitzten seine Augen. Thomas spürte eine seltsame Redelust. Ihm wurde bewusst, dass er in den letzten Wochen nur den nötigsten Kontakt mit Menschen gehabt hatte. Er hatte die Einsamkeit nicht als lästig sondern als erholsam empfunden. Nur Clara bildete eine Ausnahme, die unerwartete Entdeckung eines Menschen, der ihm zugetan war, als sei ihre Begegnung eine in Erfüllung gegangene Bestimmung. 

Der Dunkle und Thomas gingen, vom Galeristen bis an die Tür begleitet, hinter der sie ein kalter, schneidender Wind empfing. Während sie sich gegen den Wind vorwärts kämpften und sich nur mühsam unterhalten konnten, verspürte Thomas Neugierde, den anderen wiederzusehen. Er lud ihn zu sich ein. „Wenngleich ich mich mit einer bescheidenen Bleibe begnügen muss“, sagte er, „so hoffe ich, dass unser Gespräch anregend genug sein wird!“ Der Dunkle war einverstanden, und sie einigten sich auf einen Zeitpunkt. Dann ging jeder seiner Wege.