Dr. Jörg Daur

Aufmerksam und staunend durchs Leben

Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung mit Bildern von Tom Sommerlatte

Sehr verehrter Herr van Gemmern, sehr verehrte Damen und Herren, lieber Tom,

es ist mir eine Ehre und Freude zugleich, heute Abend hier zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Als Tom Sommerlatte mich vor einigen Monaten fragte, ob ich zu Ihnen über seine Bilder sprechen möchte, zögerte ich nicht lange, denn ich kenne Tom Sommerlatte schon seit vielen Jahren. Genau genommen, war er mir bereits begegnet kurz nachdem ich selbst Ende der 90er Jahre ins Rhein-Main-Gebiet gekommen war. Zunächst noch und eigentlich ausschließlich im Kontext der Freunde des Museums in Wiesbaden. Half ich doch dort neben dem Studium aus, unter anderem damit beschäftigt, den Versand der Informationen und Jahresprogramme zu organisieren. Damals eine überschaubare Aufgabe von rund 300 Briefumschlägen, wäre dies heute mit weit über 1.500 Mitgliedern für mich alleine nicht mehr zu stemmen.

So liefen wie uns also zunächst indirekt über den Weg, sozusagen via Adresse auf dem Briefumschlag, wenig später jedoch auch im Museum selbst und damit im Kontext und Rahmen der Kunst. Was ich dabei jedoch nicht – und ehrlich gesagt lange nicht wusste – war, dass Tom zeitlebens bereits selbst als Künstler arbeitete. Erst später, nun gemeinsam mit ihm im Vorstand des Ritschl-Vereins, lernte ich Tom nicht nur als profunden Kunstkenner, sondern auch als Maler kennen. Für ihn selbst war – wie er berichtete – die Begegnung mit Otto Ritschl, noch in den letzten Lebensjahren des Malers, Bestätigung und Ansporn zugleich, seinen eigenen künstlerischen Weg zu gehen, sich einer eigenen Malerei der Farbe zu widmen.

Mit 20 hatte er zunächst in Berlin ein Studium der Chemie begonnen. Zwar ging ihm das Zeichnen leicht von der Hand, doch sollte es – dem Wunsch der Familie folgend – doch erst einmal etwas „Vernünftiges“ sein. Und so wurde eben nebenher gezeichnet, als Passion, aber auch als Ausgleich für das vielleicht eher dröge Studium der Naturwissenschaften.
Dabei entstanden Bildkonstruktionen, die von Beginn an etwas Gebautes hatten, Bildflächen, die sich aus den Motiven entwickelten, die selbst zum Raster oder Muster fortgeschrieben wurden. Die Zeichnungen waren klar gegliedert, geordnet, die darauf skizzierten Personen ohne wirkliche Kommunikation, cool eben, falls diese Formulierung damals schon geläufig gewesen sein mag, im Kontext der jungen Jazz-Szene Westberlins.

Die Motive selbst fand er in den Tanzlokalen, allen voran der „Eierschale“ wo der Jazz Ende der Fünfziger Jahre in Berlin zuhause war: Eindrücke die Tom Sommerlatte zu existentialistischen Collagen, zu eindrucksvollen Bildern komponierte.

Scharfe Linien brachten Ordnung in die Bilder, durchmaßen Bildraum und Bildfläche, wo später die weichen Formen das Kommando übernehmen sollten. Gebaute Architektur, mit Ecken und Kanten verschachtelte sich zu Darstellungen, die damals sich schon in der Bildfläche zu verspannen begannen.
Jedoch mehr als zehn Jahre später erst – Tom Sommerlatte hatte inzwischen im Taunus ein neues Zuhause gefunden – sollten sich daraus die bis heute präsenten organischen Formen entwickeln: körperlich, durchaus auch erotisch zu lesen, und – jedenfalls von der Farbigkeit her – leichter, und irgendwie auch poetischer. Mithin Malerei als Gegenentwurf zu einer gedrückten, beschwerten Welt.

Wobei mir Tom Sommerlatte selbst stets als optimistischer, um nicht zu sagen zumeist als fröhlicher Mensch begegnet ist, dessen Art ansteckend und beruhigend zugleich wirkt, der in wunderbar sanfter Weise Probleme und Konflikte zu lösen weiß. Und genau dieses findet sich auch in seiner Malerei. Konzentration auf das Wesentliche, oft einzelne Farbklänge oder formale Motive, die sich wiederholen und dabei in anderem Licht gezeigt werden.

Seine Malerei bewegt sich zwischen Figuration und Abstraktion. Bereits die frühen graphischen Serien in der Ausstellung zeigen Figürliches genauso, wie daraus abgeleitete halbabstrakte Formen.

Räumlich Verschlungenes besetzt die Bildfläche, gerundete Formen bilden fantastische Welten, die Tom Sommerlatte als „Kontinent zwischen Belgien und Luxemburg“, mithin als Fantasiegebilde, Traumwelten oder Fluchten beschreibt.
Und seine Malerei bietet tatsächlich Raum für eigene Gedanken, mehr noch, für eigene Empfindungen, angeregt durch die sensible Farbpalette. Farben, die zumeist einem Spektrum entstammen, also tonig angelegt, kühl oder warm, für eine Grundstimmung sorgen. Dazu die verschlungenen Formen, die dem Bildgefüge Ordnung, zumeist auch Harmonie verleihen. Dabei entspringen diese Formen zunächst Gegenständlichem, keines der Bilder huldigt der abstrakten Form allein. Stets sind es erkennbare Ableitungen von Landschaft, Stadtarchitektur oder Pflanzlich-organischem. Wo die menschliche Figur auftaucht, ist sie nun eingebunden in das Bildganze, verwoben mit dem Bildgrund und nicht mehr isoliert, wie noch auf den frühen, existenzialistischen Federzeichnungen.

 

 

Dabei arbeitet Tom Sommerlatte durchgängig in Serien. Bereits die frühen Zeichnungen der 70er Jahre fasst er in graphischen Editionen zusammen. Um dies darzustellen, präsentiert die Ausstellung hier Zeichnung und Radierung im Wechsel, ergänzt durch einzelne, farbig interpretierte Motive. Deutlich wird, wie Zeichnung, also Linie und Form, mit der Malerei, also Farbe zusammengehen – zugleich aber auch unabhängig voneinander existieren können.

Anhand der drei frühen Editionen lassen sich drei grundsätzliche Themen abstecken: von der Landschaft in die Bildfläche, der fokussierte Blick auf organische Details, und letztlich der Mensch selbst, als Teil der Darstellung und damit des Kosmos des Bildes.

Die Abstraktion verhilft dabei dem Raum in die Fläche, die einzelnen Bildelemente werden im Rahmen verspannt. Bereits die drei Kasseler Bilder, augenfälligstes hier die Dame mit dem Papagei, wiesen in diese Richtung: mal sind es Säulen und Bäume, mal Fahnenstangen oder auch nur durchs Bild fliegende Vögel – immer jedoch eine ordnende, rhythmisierende Bildstruktur, die das Bild als Fläche gegen die Raumperspektive in Stellung bringt.

Im späteren Werk finden sich dann vermehrt graphisch aufgefasste Flächen, die – an sich flach nebeneinandergesetzt – durch den jeweiligen Farbwert erst räumliche Definition erfahren.

Spannend in diesem Kontext sind die in den letzten Jahren entstandenen Reliefs, die im Gegensatz zu den Gemälden unglaublich tiefenräumlich wirken, und dies auch tatsächlich einlösen. Wenngleich die Einzelformen hier räumlich gestaffelt erscheinen, bleibt Ihnen doch die graphische Auffassung der einzelnen Elemente. Klare Linien und Kanten bilden Raum, versetzen die Formen in unterschiedliche Ebenen. Die Farbigkeit ist dabei lebendiger, und wirkt weniger auf die räumliche Ordnung, die im Relief ja schon durch die räumliche Ausdehnung gegeben ist.

Gerade im Gegensatz zeigt sich hier die feine Farbnuancierung der Malereien. Dort nämlich kann der Raum nur mittels Farbe und Form erzeugt werden. Und da die Formen meist eher flächig und in sich verschlungen erscheinen, wächst der Farbkomposition hier eine immense Bedeutung zu. Dabei scheint es Tom Sommerlatte bei weitem jedoch nicht nur um eine abstrakte, durch die Farbe erzeugte Räumlichkeit zu gehen, vielmehr durchströmt seine Bilder eine Farbigkeit, die vom Licht der Umgebung berichtet.

So zeigen gerade die jüngsten Bilder der Ausstellung die Morgen-, Mittag- und Abendstimmung in Fatih, dem Altstadtviertel der Millionenmetropole Istanbul. Hier zeigen graphisch sich entsprechende Malereien allein durch die Farbgebung die unterschiedliche Tagesstimmung an. Entstanden sind die Bilder 2015 im Anschluss an eine Ausstellung der (Wiesbadener Künstlergruppe) Gruppe 50 im Istanbuler Altstadtbezirk, der mit seiner knappen halben Million Einwohner seit 2012 Partnerstadt von Wiesbaden ist. Tradition und Moderne treffen hier aufeinander. Touristische Hotspots wie die Sultan Achmed Moschee, das Hippodrom oder die Hagia Sophia prägen den Stadtteil genauso wie der große gedeckte Basar, der exotische Vogelmarkt und die windschiefen Holzhäuser. Ein Bezirk voller Leben und uralten Geschichten, Museum und orientalisches Zentrum Istanbuls.
Es wundert nicht, dass gerade hier Tom Sommerlatte Anregung für neue Bilder fand.

Ein Maler, ein Künstler, ein Vielbegabter, der aufmerksam und staunend durch das Leben geht. Einer, der bereits als Schüler mit Kurzgeschichten eine Kolumne der Tageszeitung füllte: Als kleine Besonderheit finden sie hier nicht nur das komprimierte Büchlein dazu, sondern auch einige der Illustrationen daraus in unserer Ausstellung.

Schließen möchte ich daher mit einem Zitat aus „Warum ich das Kringelchen erfand?“, einem jener Texte und zugleich Namensgeber der kleinen Publikation:
„Warum ich das Kringelchen erfand? Aus Protest gegen die Stein- und Eckenwelt, in der ich lebe, als atonales Gequietsche gegen die geordneten Töne, als Gekicher, als Gegrunze, als Unsinn gegen die Ordnung. Seit ich das Kringelchen erfand, ertrage ich die Kanten und Kuben viel leichter.“

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Jörg Daur, Mai 2018